Wissensräume unserer Gesellschaft #4 Baukultur trifft Alltag

Allzu oft vermitteln Architekturzeitschriften und Museen ein geschöntes Bild der Wirklichkeit, indem sie allein die herausragenden Beispiele zeigen, den weniger befriedigenden Durchschnitt hingegen ausklammern. Das vierte Veranstaltungsformat der Baukultur-Dialogreihe war als öffentliche Diskussion im HELLWEG Bau- und Gartenmarkt in Berlin-Kreuzberg an der Yorckstraße situiert und richtete das Augenmerk auf Architekturen des Alltags, Alltagsarchitekturen, Architekturen ohne Architekten und Baumärkte als Wissensräume der Heimbaukultur und hinterfragte kritisch ob wir diesen die gleiche Wertschätzung als pädagogische Orte unserer Gesellschaft entgegenbringen und was hier baukulturell gelernt werden kann.

Teilnehmende
Die Teilnehmenden dieser Veranstaltung waren der Architekt, Autor und Filmemacher Van Bo Le-Mentzel aus Berlin. Zu seinen bekannten Projekten zählen die Hartz IV Möbel (2010), One sqm House (2013), Karma Chakhs (2013), Tinyhouse University (2015) und das Co-Being House. Seine Möbel und Tiny Houses wurden international ausgestellt und haben Eingang gefunden in die Sammlung verschiedener Museen (Vitra u.a.). Mit dem Vorschlag einer modular gefertigten 100 Euro Wohnung sorgte Le-Mentzel 2017 in der Immobilienbranche für Aufsehen. Mit seiner Vision der Circular City will er soziale Nachbarschaft, Parks und Industrie in einen Kreislauf setzen. Belinda Rukschcio studierte Architektur in Wien. Nach mehrjährigen Tätigkeiten in der Architekturpraxis, Architekturvermittlung und wissenschaftlichen Mitarbeit war sie von 2016 bis 2020 als Projektleiterin bei der Bundesstiftung Baukultur für die Baukulturberichte verantwortlich. Seit Frühjahr 2021 ist Belinda Rukschcio Geschäftsführerin des Werkraums Bregenzerwald, einer regionalen Kooperation innovativer Handwerker:nnen mit Sitz in Andelsbuch, Österreich. Elena Schütz ist Architektin und gemeinsam mit Leonard Streich und Julian Schubert Mitbegründerin des Büros Something Fantastic, das im erweiterten Feld der Architektur und des Bauens arbeitet und nach Veränderung durch die Planung und Realisierung kluger, berührender, einfacher, prototypischer Projekte strebt. Gemeinsam mit Streich und Schubert lehrt sie das Masterprogramm Studio for Immediate Spaces am Sandberg Instituut in Amsterdam.

Prägende Alltagsarchitekturen und alltägliche Bauweisen
Zum Beginn wurde über Alltagsarchitekturen gesprochen, die für die Teilnehmenden persönlich prägend waren und sind. Vor dem Hintergrund ihres Erfahrungshorizonts wurde im Folgenden auf Arbeiten und Projekte eingegangen, für die die Teilnehmenden verantwortlich zeichnen und die sich durch die Verwendung von und/oder Auseinandersetzung mit ganz alltäglichen Bauweisen und Materialien auszeichnen. Le-Mentzels Hartz IV Möbel laden z.B. dazu ein, selbst Hand anzulegen. Es handelt sich hier um eine Möbelkollektion, die mittlerweile aus einem Stuhl, Sessel, Schlafsofa, Regal und Tisch besteht und mit geringem Kostenaufwand selbstgebaut wird. Er erläuterte, was ihn motivierte, bewusst provokante Projekte zu initiieren und wohin diese ihn geführt haben. Schütz sprach über Einfache Möbel, eine Reihe von Möbelentwürfen, mit der sie an einer Neudefinition von einfachen Möbeln arbeitet. Jedes Stück dieser Reihe ist so konzipiert, dass es aus einem Material gebaut wird, das schön, funktional und leicht verfügbar ist. Zudem erfordern sie nur minimale Arbeit, um sie zu bauen. Auch ihr Entwurf für das Five Piece Haus basiert auf der Verwendung von fünf vorgefertigten Bauelementen. Grundsätzlich zeichnet sich ihre Arbeit durch Einfachheit, Direktheit und Anwendbarkeit der Materialien aus. Als Geschäftsführerin des von Peter Zumthor entworfenen Werkraums Bregenzerwald gehört es zu Rukschcios Aufgabe, zur Förderung und öffentlichen Wahrnehmung handwerklicher Interessen und Handwerkskultur beizutragen. Sie sprach darüber, welche Maßnahmen sie wahrnimmt, um nach außen wie innen zu wirken.

Von Baumarkt und Baukultur
Bildungsstätten aller Art (Kindergärten, Schulen, Universitäten etc.) und Kultureinrichtungen (Museen, Galerien, Theater usw.) sind wichtige kulturelle Bildungseinrichtungen unserer Gesellschaft. Sie stehen im Dienste der Gesellschaft und erbringen Leistungen für die Gesellschaft und ihre Entwicklung. Wie schaut es aber mit dem pädagogischen Mehrwert von Alltagsarchitekturen und Orten wie Baumärkten aus: Sind diese nicht vielleicht die wahren Wissensräume unserer Gesellschaft – neutral, inklusiv, zugänglich und niederschwellig? Vor diesem Hintergrund sprach Schütz von ihrem Visual Atlas of Infrastructure Space, einer
heterogenen Sammlung von Bildern infrastruktureller Räume, die sich mit dem Mehrwert dieser alltäglichen Orte auseinander setzt. Des Weiteren sprach sie über die Gestaltung der Büroräume der Kommunikationsagentur Bureau N, bei der die gesamte Inneneinrichtung aus adaptierten Baumarkt-Elementen und Materialien gestaltet wurde. Le-Mentzel erläuterte seine Do-It-Yourself und Open-Design Arbeitsweise in Referenz zu Enzo Mari. Als Demokratisierung des Designs und provokanter Gegenentwurf zum kapitalistischen Paradigma des Massenkonsums veröffentliche bereits 1974 Enzo Mari in seinem Buch Autoprogettazione 19 Möbelentwürfe zum Selbermachen. Möbel nach Bedarf selber zu bauen nach dem Motto „Konstruieren statt Konsumieren" ist auch Le-Mentzels Idee. Rukschcio sprach über eine Besonderheit im Werkraum, die eingerichtete Studiensammlung, die Einblicke in das Handwerk und Design aus der Region bietet und dessen kulturelle Bedeutung anerkennt. Von der UNESCO wurdet diese bereits 2016 in das Internationale Register guter Praxisbeispiele für die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Rukschcio betonte die Rolle des Handwerks als eine lebendige Wissenstradition.

Weitere informelle Lernorte
Alle Teilnehmenden sind auf ihre eigene Art und Weise der Vermittlung von Baukultur verschrieben. Gesprochen wurde über Alltagsarchitekturen und Räume und Baumärkte als nicht-institutionelle Wissensräume. Zum Abschluss wurde der Blick auf weitere informelle Situationen und Räume im Stadtraum gelenkt, die Möglichkeiten des Lernens und der Kultur- und Wissensvermittlung erlauben. So ist Le-Mentzel in verschiedenen Projekten engagiert, u.a. ist er Mitbegründer des Berliner Vereins Kiez-Tank-Stelle, der sogenannte Schooltalks organisiert. Interessante Persönlichkeiten werden dazu in Schulen eingeladen, um den Jugendlichen zu erzählen, wie sie es geschafft haben, trotz schlechter Startbedingungen im Leben weiter zu kommen. Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) realisierte im Deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig 2016 die Ausstellung Making Heimat. Germany, Arrival Country. Schütz und Something Fantastic waren dabei verantwortlich für alle Gestaltungsfragen von der Ausstellungsgestaltung über CI, Webseiten, Kataloge bis hin zur Eröffnungsparty. Making Heimat fragte danach, welche architektonischen und städtebaulichen Bedingungen in Ankunftsstädten gegeben sein müssen, damit sich Einwanderer in Deutschland erfolgreich integrieren können. Schütz sprach darüber, was sie über die Bedeutung informeller Orte des Austauschs und der Wissensvermittlung gelernt hat. Bis 2020 war Rukschcio bei der Bundesstiftung Baukultur für den Baukulturbericht verantwortlich. Der aktuelle Baukulturbericht 2020/21 Öffentliche Räume befasst sich schwerpunktmäßig mit der Bedeutung und den Potenzialen dieser Räume. Sie nannte entscheidende Lehren, die sie aus dem Bericht mitnehmen konnte.

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